In dem Nachlass meines Schwiegervaters fanden sich die gesammelten Briefe, Karten und Zeichnungen seines erstgeborenen Sohnes, die dieser von seiner Grundausbildung in Salzwedel und aus dem Russlandfeldzug an seine Eltern geschickt hatte.
Mein mir unbekannter Schwager Heinz Blanke ist mir durch die Lektüre seiner schriftlichen Lebenszeichen nahe gekommen. Ich kannte bisher nur ein Foto von ihm, das ihn als Jungen mit einer zeittypischen Frisur und dadurch betont abstehenden Ohren zeigt. Seine Schreiben, die eine Facette des Lebens an der Front im 2. Weltkrieg widerspiegeln, fand ich so eindrucksvoll, dass ich sie für meine Angehörigen und diesen Artikel gesichtet und zusammengefasst habe. Heinz war 18 Jahre alt, als er im April 1942 zum Militär nach Salzwedel eingezogen wurde. Mit großer Anhänglichkeit schrieb er von dort häufig an seine Eltern und auch oft mit einer Bitte um eine Kleinigkeit, die ihm im Alltag fehlte. Die Eltern hielten engen Kontakt zu ihm und erfüllten, wenn sie es in dieser Kriegszeit möglich machen konnten, seine kleinen Wünsche.
Die Offizierslaufbahn lehnte er ab und blieb deshalb einfacher Soldat. Im Juli 1942 wurden er und die Kameraden seines Zuges feldmäßig eingekleidet und anschließend per Güterwagen auf die Reise über Halberstadt und Berlin nach Frankfurt/Oder gefahren. Wenige Tage später schon durchquerten sie Polen, dann Litauen und Lettland und befanden sich bald danach am Dnjepr.
„Wer hätte gedacht, daß ich noch einmal eine solche Reise machen würde?“ schrieb Heinz am 20. Juli an seine Eltern. Die weite russische Landschaft gefiel ihm sehr und in dieser stillen, weiten Natur zu leben, konnte er sich für die Zeit nach dem Kriege gut vorstellen. Die Idylle war jedoch trügerisch, der Krieg war immer nahe. Die überfallenen Russen verteidigten ihr Land mit großer Entschlossenheit und ohne Rücksicht auf eigene Opfer. Heinz und seine Kameraden wurden in ihren Stellungen immer wieder mit Granaten und Bomben eingedeckt.
In vielen seiner Schreiben kam zum Ausdruck, dass er die Heimat, sein gewohntes Umfeld und vor allem die Eltern sehr vermisste. Über jedes Schreiben, das ihn erreichte und jedes Päckchen freute er sich riesig. Voller Sehnsucht und Ungeduld erwartete er das nächste Schreiben. Den Satz „Nun werde ich sicher auch bald Post erhalten“, konnte ich immer wieder auf seinen Karten und in seinen Briefen lesen.
Zugelassen als Sendung an die Front waren Postkarten und Briefsendungen bis 250g, Päckchen bis 1kg. Die Versorgung der Soldaten war häufig schlecht und Hunger war schon im August 1942 ein ständiger Begleiter. Heinz bat seine Eltern mehrfach um Puddingpulver, das er sich wie seine Kameraden mit Wasser und Zucker kochen wollte, um den knurrenden Magen zu füllen.
Ab und zu wurden aber auch Zigarren, Zigaretten, Alkohol, Schokolade und Bonbons von der Einheit an die Soldaten so reichlich ausgeteilt, dass sie davon noch abgeben und einiges in die Heimat schicken konnten.
Im August musste Heinz, wie andere junge Soldaten auch, eine offizielle schriftliche Erklärung auf einem offiziellen Formblatt abgeben. „Nach sorgfältiger Prüfung der mir zur Verfügung stehenden Unterlagen, erkläre ich pflichtgemäß, daß ich – meine Ehefrau – kein jüdischer Mischling bin“, stand in dem amtlichen Formular zu lesen.
Noch im 1. Weltkrieg hatten fast 100.000 jüdische Soldaten für Deutschland gekämpft, Zehntausende fielen oder wurden schwer verwundet. Im sogenannten Dritten Reich wurden viele der Juden, die diesen Horror überlebt hatten, im Holocaust ermordet. Der Antisemitismus war Staatsdoktrin geworden.
Inzwischen ging der Krieg an allen Fronten erbittert weiter. Heinz konnte in seinem Frontabschnitt deutlich den Gesang der russischen Gegner und das Klappern ihrer Kochgeschirre hören, so nahe waren sich die feindlichen Verbände gekommen.
Anfang Oktober waren die Nächte schon sehr kalt. Heinz schrieb an seine Eltern: „…die Russen versuchen jetzt, ….. uns in Nahkämpfe zu verwickeln. So stehen wir jetzt immer mit einem kurzen Spaten und Handgranaten bewaffnet Wache. Man muss gewaltig aufpassen. Augenblicklich sind die Nächte mächtig dunkel, da der Himmel bewölkt ist und es regnet dauernd“.
Im September fragte Heinz aus dem fernen Russland wieder um Puddingpulver an. „Kann man bei euch noch Puddingpulver kaufen? Wenn Ihr keinen Zucker habt, so schickt es mir ohne“. Er wusste, dass die Versorgungssituation in der Heimat auch bereits sehr angespannt war. Eine andere Bitte betraf eine Mundharmonika. Das kleine Instrument sollte ihm an der Front ein musikalischer Begleiter für stille Stunden sein. In weiteren Schreiben äußerte er die Bitte nach Kleinigkeiten, die ihm das Leben erträglicher machen konnten, wie ein Taschenmesser, einen Bleistift, ein Radiergummi und einen Kohlestift für seine Zeichnungen. Heinz war ein begabter Zeichner, wie aus den von seinem Vater verwahrten Bildern hervorgeht. Einige neue Zeichnungen schickte er von der Front.
Im Oktober schrieb Heinz, dass zeitig gefallener Schnee bald wieder aufgetaut war und den Boden in Schlamm verwandelt hatte. Das Leben in den Unterständen und Gräben, in Dreck und Kälte wurde immer schwieriger, und so wanderten die Gedanken des jungen Soldaten noch häufiger zur Heimat und zu den Eltern. Deren Briefe wurden nicht nur gelesen, „… sondern fast auswendig gelernt“.
„…freue ich mich über eure Post. Es ist doch immer etwas Heimat, was man dort gebracht bekommt. …Jeder schwärmt von zu Hause und schmiedet Pläne, was er alles nach dem Kriege machen will. So kommt es jedem noch einmal zu Bewußtsein, wie gut er es doch zu Hause bei Muttern gehabt hat.“
Die Soldaten durften selbstverständlich nicht mitteilen, wo an der Front sie sich gerade aufhielten. Um trotzdem einen Kontakt zu ermöglichen, gab es Feldpostnummern, eine Art Postleitzahl.
Heinz wurde ebenso wie seine Kameraden auch an andere Frontabschnitte versetzt. Danach berichtet er u.a.: „Seit 4 Tagen habe ich nicht geschlafen. Nachts stehen wir 14 Stunden Wache……. Die letzten Tage verbrachten wir nur im Graben oder im Unterstand. Dabei mußten wir aufpassen, daß wir den Kopf nicht zu weit über den Grabenrand steckten. Das Essen holten wir in Kanistern. Es mußte dann jedesmal aufgetaut werden. Brot und Aufstrich, alles ist hart…“
Und „Viele, die mit mir in Salzwedel waren, sind schon nicht mehr.“
Am 12. Dezember wurde Heinz 19 Jahre alt, rechtzeitig zu diesem Tag kam ein Geburtstagspäckchen von zu Hause bei ihm an. Die Weihnachtstage musste er auf Posten zubringen, und dort dachte er wehmütig und voller Heimweh an das Weihnachtsfest im elterlichen Haus. „Wir hatten schon vor einigen Tagen eine Weihnachtsfeier, da wir an den Festtagen wohl nicht dazu kommen.“ schrieb er den Eltern. In seiner Einheit wurden in diesen Tagen reichlich Leckereien wie Schokolade, Drops, Semmel, Kekse und Zigaretten ausgegeben.
Auch am Silvesterabend stand Heinz auf Wache und stellte sich die bange Frage, was das neue Jahr ihm wohl bringen würde. Sicher wohl die Geburt eines Geschwisterchens. Das wusste er, und darauf freute er sich sehr. Eigentlich hätte er wohl gerne eine Schwester gehabt, war dann aber auch froh über den kleinen Bruder, von dessen Geburt Anfang Januar er kurze Zeit später erfuhr.
Der Krieg ging unterdessen mit großer Härte weiter. „4 feindliche Angriffe haben wir abgewehrt, davon 2 Panzerangriffe. Im Wehrmachtsbericht wird es wieder heißen, daß im mittleren Frontabschnitt einige Panzer abgeschossen sind. Aber was das heißt, wird man sich in der Heimat kaum vorstellen können. Es ist auch nur gut so.“
In einem weiteren Brief schilderte Heinz eine erfolgreiche Kampfhandlung und beschrieb seinen persönlichen Zustand so: „Mir geht es verhältnismäßig gut. Ich hatte mir die Füße etwas erfroren und die Hand verbrannt. Beides ist aber schon wieder so ziemlich geheilt.“ Gleichzeitig bereitete er seine Eltern darauf vor, dass er in der nächsten Zeit in Marsch gesetzt würde und wohl kaum Zeit zum Schreiben hätte. Post von ihm kam jetzt nur noch sporadisch, denn „augenblicklich heißt es marschieren und nochmals marschieren und nebenbei noch kämpfen…. Macht euch keine Sorgen.“
Das letzte Schreiben von Heinz datiert vom 24.03.1943. Wenige Tage später, am 03. April erhielt sein Vater die Nachricht:
„Am 28.3.1943 bei den Kämpfen ostwärts Karnowka ist Ihr Sohn Grenadier Heinz Blanke, getreu seinem Fahneneid, auf dem Felde der Ehre für Großdeutschland gefallen.
Die Kompanie wird Ihrem Sohn, der ein vorbildlicher Soldat und allseits beliebter Kamerad war, stets ein ehrenvolles Andenken bewahren.“ Dann folgte der Hinweis auf die letzte Ruhestätte und danach endete das Schreiben mit dem Satz: „Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Sohn sein Leben für den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, ein Trost in dem schweren Leid sein, das Sie getroffen hat.“
Mit diesem schwülstigen, verlogenen Text war von Seiten des Staates der Schlussstrich unter das Leben eines jungen Mannes gezogen, der wie viele andere in diesem schrecklichen, von Deutschland ausgehenden Krieg gestorben war, bevor er richtig gelebt hatte. Er hatte nicht nur seinen kleinen Bruder nicht mehr kennenlernen können, sein Leben war schon zu Ende, bevor er einen Beruf erlernen, eine Partnerschaft eingehen und eine Familie gründen konnte. Mich erfüllt Trauer, wenn ich an die vielen jungen, hoffnungsvollen Menschen denke, die in diesem Krieg für eine unwürdige Sache gekämpft und ihr Leben verloren haben. Der Nationalsozialismus hat nicht nur sie auf dem Gewissen, sondern Millionen von Menschen, die Opfer dieses Weltkrieges und von rassistischer Verfolgung wurden. Ich habe die große Hoffnung, dass unsere Demokratie, die uns bisher so viele Friedensjahre beschert hat, stabil bleibt und das Leben meiner Enkel in friedlicheren Verhältnissen verlaufen kann, als das ihres so jung im 2. Weltkrieg gefallenen Verwandten.
Anmerkung:
Beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sind einige Informationen über Heinz Blanke zu finden.
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