Ein recht seltener Postbeleg der Bromer Postgeschichte ist eine Postkarte, die von Yokohama in Japan im Jahr 1899 nach Brome geschickt wurde. Der Adressat der Postkarte war der Bromer Schlossermeister Gustav Junge. Warum der Kartenschreiber H. Krüger sich in Japan aufgehalten hat, ist leider nicht bekannt. Auch über seine Person wissen wir bisher nichts.
Der 1966 gestorbene Heimatforscher Karl Schmalz hat mit seinen Beiträgen zur Bromer Geschichte ein umfangreiches Werk geschaffen, das in einer Sammlung von 3 neu aufgelegten Bänden im Archiv des Museums in Brome vorliegt. Quellen und Grundlagen für seine Forschungsarbeiten waren die Bibliotheken und Archive in Niedersachsen.
Einen breiten Raum bei seinen zahlreichen heimatkundlichen Aufsätzen nehmen „Christentum und Kirche“ ein.
Unter dieser Überschrift beschäftigte sich Karl Schmalz auch mit der Reformation und ihren Auswirkungen auf unsere engere Heimat.
Zu Beginn seines Aufsatzes über die Reformation schreibt Karl Schmalz über unsere Region:
„Wenn man Samuel Walther (1679 – 1754, Schriftsteller, Pädagoge und Historiker) Glauben schenken darf, dann war der letzte katholische Geistliche zu Brome und hernach der erste lutherische, Peter Oldeland.“
Dieser ursprünglich katholische Bromer Geistliche Oldeland wechselte offenbar nahtlos vom katholischen zum evangelischen Glauben über. Wie aus der folgenden Aussage von S. Walther hervorgeht, konnte er sein Amt auch nach der Reformation als nunmehr evangelischer Pastor ausüben.
„…Wann Peter Oldeland der Ältere geboren und gestorben ist, steht nicht fest. Ein Pfründenregister von 1534 gibt ihn noch als Pastoren an und kennt seinen Sohn als Coadjutor…“
Demnach war Peter Oldeland der Jüngere Kirchengehilfe und Küster seines Vaters.
Trotz des auch damals bestehenden Zölibats für Priester, hatte Oldeland der Ältere als katholischer Geistlicher einen Sohn. Dazu kann man bei Schmalz wiederum Samuel Walthers Erklärung zu dieser Vaterschaft finden: „Nicht wenig Priester haben damals sich eine Konkubine“ gehalten. Tatsächlich kam es nicht selten vor, dass Priester offen mit Frauen zusammenlebten. Im Zuge der Reformation gab es schließlich Strömungen, die den Zölibat als christliche Lebensform generell ablehnten und sich damit von der römischen Kirche abgrenzten.
Oldelands Sohn studierte in Wittenberg Theologie, hatte dort Luther und Melanchthon gehört und so seinen Vater „auf andere Wege“ gebracht und ihn damit möglicherweise von der neuen Lehre überzeugt.
Schmalz lässt auch Pastor Salfeld zu Worte kommen. Der zitiert aus dem Pfründenregister (Pastor Salfeld. Das LüneburgischePfründenregister von 1534. Zeitschrift der Gesellschaft für nieders.Kirchengeschichte. Braunschweig 1934): „Kaum merken wir etwas vom Widerstand gegen die Einführung der Reformation…“ Karl Schmalz zieht daraus den Schluss, dass sich der Übergang in den meisten Fällen reibungslos vollzogen hat, wenn auch nicht überall, wie das Beispiel von Steimke zeigt, einem altmärkischen Nachbarort von Brome.
„Dort war“, schreibt Schmalz, „nach der Reformation wieder katholischer Gottesdienst eingeführt worden. Dazu hatte der Lehnsherr der Vogtei Steimke, der Kurfürst Joachim I. von Brandenburg /1499 – 1535) ein erbitterter Feind Luthers, seinem Sohn Joachim II. das Versprechen abgenommen, bei der alten Lehre zu bleiben. Erst am 1.11.1539 hat Joachim II. in dem ihm vererbten Teil Brandenburgs, wozu auch die Altmark mit der Vogtei Steimke zählte, die Reformation eingeführt.“
In den Klöstern war die Gegenwehr gegen die Reformation heftiger. Auch das Kloster Isenhagen in Hankensbüttel hat Widerstand geleistet, doch ist es dabei nach Schmalz nicht zu dramatischen Zuspitzungen gekommen.
Erstaunlich anders lief es bei den Bartenslebens auf der Burg Wolfsburg:
Der Bartenslebensche Toleranzvertrag vom 03.07.1555 bestimmte u.a., dass auf der Wolfsburg für die Angehörigen jedes der beiden Bekenntnisse ein Geistlicher unterhalten werden sollte. „Der evangelische Gottesdienst wird jeden Sonntag von 6 – 8 Uhr und am Nachmittag von 12 – 2 Uhr abgehalten. Jedenfalls die beiden folgenden Stunden steht die Burgkapelle den Katholiken für den Sonntagsgottesdienst zur Verfügung“. Damit sollten „Friede und Einigkeit erhalten und keine Zwietracht gestiftet werden“.
Dieses tolerante Verhalten könnte auch für das Zusammenleben der Religionen in der heutigen Zeit ein löbliches Vorhaben sein.
Messgewänder und katholische Kirchengerätschaften wurden anfänglich in den nun evangelischen Kirchen weiter verwendet. „Gold und Silbergeräte hat oft der Kirchenpatron an sich genommen.“
Viele Heiligenfiguren, Malereien oder Schnitzwerke, auch aus den hiesigen Kirchen, sind vermutlich in Museen oder Privathäuser gewandert, wenn sie nicht gleich dem reformatorischen Bildersturm zum Opfer gefallen sind.
Nachdem es den Geistlichen nun möglich geworden war, sich zu verehelichen, gab es in der Folge das Problem der Versorgung der Witwen. Solange diese Frauen von ihren Familien unterstützt werden konnten, drückte man sich besonders in Brome davor, ein Pfarrwitwentum einzurichten. Das war bitter für die Frauen, denn es bedeutete für sie, sich in große Abhängigkeit zu begeben und Bittstellerinnen zu werden. Erst ab 1736 kam es schließlich per amtlichem Befehl aus Fallersleben zum Bau eines Witwenhauses in Brome, womit die jahrzehntelange Zahlungsverweigerung mit immer neuen Finten und Prozessen endlich ein Ende fand.
Der Bromer Lehrer und Kantor Heinrich Georg Lindwedel hat ein am 8. November 1898 begonnenes Tagebuch hinterlassen, das sich im Original im Archiv des Bromer Museums befindet. Lindwedel wurde 1846 geboren und starb 1906.
Aus seinen Aufzeichnungen kann man in groben Zügen das heimische Wettergeschehen zwischen 1889 und 1904 nachlesen. Darüber hinaus berichtete Lindwedel ausführlich über einen Besuch der regional bedeutenden Distrikts- und Lokaltierschau in Gifhorn, die er als Mitglied eines nicht näher benannten Vereins besuchte.
Seine Wetteraufzeichnungen erzählen u.a. von Kapriolen wie späten Nachtfrösten und einer Windhose Ende April 1890: „…war eine Windhose, die sich von Parsau nach Croya und von hier nach Böckwitz zog, wo eine Scheune des Hl (Hauptlehrers?) Ellenberg umgerissen wurde.“
Die Landwirtschaft litt in manchen Jahren besonders unter Gewitter und Hagelschlag. Starker Regen ließ die Futtervorräte schlecht trocknen, so dass sie unbrauchbar wurden. Bei einem Hagelunwetter 1891 verzeichnete Lindwedel: „…von Braunschweig bis Hameln; viele Gewitter, ein Blitzstrahl zündete in Zasenbeck (am 4.8.) und äscherte ein Wohnhaus ein, desgl. am 5. August das Wohnhaus des Ackermannes Schröder in Voitze, dem Kälber und sämtliches Inventar verbrannte.“
Angebaut wurden damals in der Bromer Gegend u.a. Roggen, Erbsen, Buchweizen und Kartoffeln. Die Kartoffeln wurden durch den vielen Regen oft krank und nahmen Schaden: „…binnen 8 Tagen sind mit Eierkartoffeln bestellte Fluren schwarz geworden, während die übrigen Sorten mehr Widerstandsfähigkeit zeigen.“
1892 konnte wegen der Maul- und Klauenseuche die sonst regelmäßig stattfindende Tierschau in Brome nicht ausgerichtet werden.
Besonders schlimm war das Frühjahr 1892 für die Landwirtschaft. Es war lange sehr kalt, so dass die Einsaaten litten und die Menschen erst Ende Mai ihre Stuben nicht mehr heizen mussten. Im Juni war der Buchweizen erfroren, aber damit nicht genug. Lindwedel hielt fest: „Ein furchtbarer Sturm am Johannistag (24. Juni), viele Bäume entwurzelt, abgebrochen, das Obst von den Bäumen geschlagen“. Nur Tage später wurde beim Heuladen ein Mädchen im Drömling vom Blitz erschlagen, der Fuhrmann war besinnungslos, ein weiteres Mädchen verletzt. Die Pferde konnten gerade noch gerettet werden, der Wagen mit dem Heu verbrannte.
Dann war es wieder zu trocken, und der 17. August wurde zu dem heißesten Tag des Jahrhunderts mit 39,8° Celsius. Von einem anderen Wetterextrem im nächsten Jahr berichtete er: „Die Kälte war im Monat Januar so stark, daß ältere Leute sich eines solch starken und anhaltenden Frostes nicht erinnern konnten.“
Im Februar 1894 beschädigte ein orkanartiger Sturm Gebäude und deckte das Dach der Molkerei in Rühen mitsamt Sparren und Ziegeln gänzlich ab. Die umliegenden Wälder wurden ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen. Im Frühjahr hatte die Mäusepopulation so sehr zugenommen, dass der Roggen abgefressen wurde. Dann überschwemmten wieder heftige Regenfälle, schlimmer als üblich, große Bereiche von Brome und bald danach war es wieder zu warm und trocken, so dass der Hafer auf höhergelegenen Flächen gänzlich zu vertrocknen drohte.
Die Landwirtschaft war trotz der zunehmenden Mechanisierung überwiegend Handarbeit, ein hartes Geschäft und daher noch mehr vom Wetter abhängig als heute.
Kritisch bewertete Lindwedel die Lokaltierschau in Gifhorn. Leicht verstimmt, weil die Delegation, der er angehörte, nicht wie zugesagt vom Bahnhof abgeholt wurde, notierte er das Geschehen auf der sog. Masch am Schützenplatz.
Sein Wohlgefallen fanden die „…gezierte und geschmückte Ehrenpforte“, sowie die großen, dichtstehenden Kastanienbäume, unter denen die zur Schau gestellten Pferde, darunter Hengste, Stuten und Ackerpferde zu besichtigen waren. Hinter den Pferden grasten Schafe und in einem anderen Bereich gab es Ackergeräte zu sehen wie verschiedenscharige Pflüge, einen Erntewagen aus Wernigerode, eine Düngerstreumaschine, einen selbsttätigen Düngereinlagerer, eine Sämaschine, 6 verschiedene Häckselschneidemaschinen, 3 Staubmühlen (Windfegen) und 2 unterschiedliche Kartoffelsackmaschinen.
Diese Maschinen waren für die damalige Zeit mit das Neueste, was die Agrartechnik liefern konnte und verhalfen der Landwirtschaft zu einem vorher nicht möglichen Aufschwung.
Ebenso auf der Ausstellung vertreten waren Kühe verschiedener Rassen, die schon eine Milchleistung von bis zu ca. 3700 Litern im Jahr erbrachten. Immer noch wenig im Vergleich zu den heutigen Hochleistungskühen, die nur auf Milchleistung gezüchtet werden und einen Ertrag von bis zu 10 000 l haben. Neben den Kühen gab es Bullen und allerlei Kleingetier zu sehen und trotz des breiten Angebotes fiel Lindwedels Resümee nach der Besichtigung so aus. Ich zitiere:
„Bier schlecht, Wetter schön… Sinniger Spruch:
Wer Gott vertraut und tüchtig schafft, kommt vorwärts in der Landwirtschaft, die Hand geregt, frisch angefaßt, erleichtert jede Müh‘ und Last.
Urteil: Mehr versprochen, Kastengeist vorherrschend, daher Beteiligung gering.“
Mit einem Bericht über eine wahrscheinlich feucht-fröhliche, im Ganzen „vollbefriedigende“und für den heutigen Leser heiter anmutende Flurbesichtigung seines Vereins, beendete Georg Lindwedel seine Aufzeichnungen. Die teilnehmenden Herren wurden bei dieser Bereisung in 16 Pferdewagen, von 4 Musikern mit fröhlichen Weisen begleitet, durch die Flure von Voitze, Wiswedel und Ehra gefahren. Dabei wurde kritisch beäugt, was gut oder weniger gut gewachsen war. Dass in Ehra wegen der Hitze der Roggen zu wünschen übrig ließ, Hafer und Klee aber ordentlich standen, wurde aufmerksam registriert. Vermisst wurden von den Herren zu dieser Besichtigungsreise die schmückenden Triumphbögen an den Ortseingängen von Voitze und Wiswedel. Lediglich in Ehra leuchtete ihnen ein solcher Bogen blumenverziert entgegen. Gut genährt und wahrscheinlich mit dem einen oder anderen Bier gestärkt, machte man sich ganz und gar zufrieden am Abend wieder auf den Heimweg.
Als meine Familie 1950 nach Altendorf zog, kam ich in ein Dorf, das durch bäuerliche Selbstversorgung geprägt war. Mehr als 30 Familien lebten ausschließlich von der Landwirtschaft. Die Viehwirtschaft umfasste alles, was man in Bilderbüchern für Kinder heute romantisierend als „heile Welt-Bauernhof“ oft noch findet. Kühe, Pferde, Schweine, Schafe und allerlei Federvieh waren auf jedem Hof zu sehen. Vor Pflüge und Wagen spannte man Pferde. Es gab nur vereinzelt Trecker. Die Kühe wurden morgens durch das Dorf zur Weide getrieben und abends zum Melken wieder in den Stall geholt. Vor den Höfen standen „Milchbänke“, auf denen Milchkannen auf den Abtransport zur Molkerei nach Brome warteten. Im Rundling war nur die Hauptstraße gepflastert. Die heutige Bundestraße hatte um 1950 noch Kopfsteinpflaster. Daneben verlief ein sogenannter Sommerweg, ein unbefestigter Straßenteil, den das Vieh gerne zum Laufen annahm. In die einklassige Volksschule gingen die Kinder zu Fuß, Schüler aus Benitz nahmen, falls vorhanden, ein Fahrrad und benutzten einen unbefestigten Rad- und Fußweg neben der heutigen Bundesstraße.
Die Bauerngärten dienten überwiegend der Selbstversorgung mit Gemüse und hatten nur einen kleinen Blumenanteil. Rasenmäher für Vorgärten gab es noch nicht.
Der Wiesenanteil in der Gemarkung war sehr groß, da man das Gras als Viehweide im Sommer benötigte, die restlichen Wiesen aber für Heu und Grummet (Grummet ist der zweite Grasschnitt) als Wintervorrat. Mineralischer Dünger wurde kaum eingesetzt. Der Mist aus der Viehhaltung diente dem Düngen des Ackers.
Daher waren die Wiesen mager und zeigten eine große Artenvielfalt an Blühpflanzen und Gräsern. Im Frühjahr waren die Wiesen übersät mit einem weißen Schleier von Wiesenschaumkraut. An nassen Stellen prahlten Sumpfdotterblumen mit ihrem satten Gelb. Dunkelgrün waren torfige Flächen durch die dort wachsenden Binsen. Im Mai überzog ein tiefes Rot die Stellen, wo noch einheimische Orchideen, wie das gefleckte Knabenkaut, wuchsen. Auch die wunderschönen Blüten des Fieberklees konnte man bis in die sechziger Jahre noch in der Nähe der Ohre finden.
Die war noch nicht begradigt und schlängelte sich in vielen Windungen in Richtung Brome. In den Höhlungen der Ufer fingen wir als Kinder mit der Hand noch Edelkrebse. In den Gräben hatten zahlreiche Kleinfische, wie die Stichlinge ihre Kinderstube. Auch Bodenbrüter in den Feuchtwiesen waren häufig. Das durchdringende „Kiwitt“ des Kiebitzes war weithin zu hören.
Im Frühjahr konnte man die akrobatischen Balzflüge dieser Vögel beobachten. Wehe dem Fuchs, der dem Gelege zu nahe kam. Pfeilschnell stürzte sich ein Kiebitz im Sturzflug auf den möglichen Eierdieb und vertrieb ihn mit ständigen Scheinangriffen aus dem Revier. Allabendlich waren Bekassinen zu sehen. Bei ihren typischen Hochzeitsflügen ließen sich die Vögel aus großen Höhen senkrecht herabfallen und spreizten dabei die äußeren Steuerfedern ab, die dann ein „wummerndes“ Geräusch erzeugten. Daher nannte man diese Schnepfen im Volksmund Himmelsziegen. Selbst das melancholische Flöten des Großen Brachvogels war noch zu hören. Auch der Weißstorch zog auf einem Nest im Dorf seine Jungen auf. Nahrung gab es in den Feuchtwiesen reichlich. So konnte man in der Heuzeit manchmal den sogenannten „Krötenregen“ beobachten. Um diese Zeit verließen die kleinen Kröten massenweise ihre Gewässer und suchten, nachdem sie nun zu Lungenatmern geworden waren, ihre Nahrung in den Wiesen.
In den sechziger Jahren begann sich das Dorf zu verändern. Das Pferd als Zugtier machte Traktoren Platz, immer mehr Maschinen ersetzten oder erleichterten die schwere körperliche Handarbeit in der Landwirtschaft. Das „Höfesterben“ begann. Viele kleinere Bauern gaben ihre Höfe auf, weil sie in der wachsenden Industrie bessere Verdienstmöglichkeiten fanden. Andere übernahmen die Flächen, die zu größeren Einheiten zusammengefasst wurden. Heute teilen sich drei Landwirte die Gemarkung. Immer weniger Vieh wurde gehalten, deshalb brach man Wiesen um, legte Drainagen und verwandelte sie in Ackerland. Der Verbrauch an Mineraldünger, Herbiziden und Pestiziden nahm zu. Die Verarmung der Landschaft begann schleichend.
Wo wenig Insekten sind, können auch nur wenige Insektenfresser leben. Wo Mineraldünger eingesetzt wird, gibt es keine Orchideen mehr, die auf stickstoffarme Böden angewiesen sind. Werden Wiesen entwässert, fehlt Schnepfen und Kiebitzen der weiche Boden, in dem sie ihre Nahrung finden. Wird das Gras auf noch vorhandenen Wiesen schon April/Mai für Silage gemäht, hat kein Bodenbrüter die Chance, seine Jungen aufzuziehen.
Auch der Storch verließ 1996 unser Dorf, weil er nicht mehr ausreichend Nahrung fand.
Leider besteht auf die Rückkehr der bei uns verschwundenen Arten keine Hoffnung, da vermutlich die Landwirtschaft nicht zu alten Strukturen zurückkehren kann. Allerdings gibt es auch Lichtblicke. Durch den Status des Naturschutzgebietes in unmittelbarer Nähe des Dorfes sind ein Rest an Wiesen und die sich windenden Ohre dem Einfluss des Menschen entzogen. Biber stauen durch Dämme, Flachgewässer entstanden und bilden ideale Kinderstuben für Jungfische. Dadurch kann man wieder vermehrt Tiere beobachten, die davon leben wie Eisvogel, Reiher und Otter. Der angehobene Wasserstand ermöglicht auch dem Kranich inzwischen Jahr für Jahr hier heimlich seine Jungen aufzuziehen.
In dem Nachlass meines Schwiegervaters fanden sich die gesammelten Briefe, Karten und Zeichnungen seines erstgeborenen Sohnes, die dieser von seiner Grundausbildung in Salzwedel und aus dem Russlandfeldzug an seine Eltern geschickt hatte.
Mein mir unbekannter Schwager Heinz Blanke ist mir durch die Lektüre seiner schriftlichen Lebenszeichen nahe gekommen. Ich kannte bisher nur ein Foto von ihm, das ihn als Jungen mit einer zeittypischen Frisur und dadurch betont abstehenden Ohren zeigt. Seine Schreiben, die eine Facette des Lebens an der Front im 2. Weltkrieg widerspiegeln, fand ich so eindrucksvoll, dass ich sie für meine Angehörigen und diesen Artikel gesichtet und zusammengefasst habe. Heinz war 18 Jahre alt, als er im April 1942 zum Militär nach Salzwedel eingezogen wurde. Mit großer Anhänglichkeit schrieb er von dort häufig an seine Eltern und auch oft mit einer Bitte um eine Kleinigkeit, die ihm im Alltag fehlte. Die Eltern hielten engen Kontakt zu ihm und erfüllten, wenn sie es in dieser Kriegszeit möglich machen konnten, seine kleinen Wünsche.
Die Offizierslaufbahn lehnte er ab und blieb deshalb einfacher Soldat. Im Juli 1942 wurden er und die Kameraden seines Zuges feldmäßig eingekleidet und anschließend per Güterwagen auf die Reise über Halberstadt und Berlin nach Frankfurt/Oder gefahren. Wenige Tage später schon durchquerten sie Polen, dann Litauen und Lettland und befanden sich bald danach am Dnjepr.
„Wer hätte gedacht, daß ich noch einmal eine solche Reise machen würde?“ schrieb Heinz am 20. Juli an seine Eltern. Die weite russische Landschaft gefiel ihm sehr und in dieser stillen, weiten Natur zu leben, konnte er sich für die Zeit nach dem Kriege gut vorstellen. Die Idylle war jedoch trügerisch, der Krieg war immer nahe. Die überfallenen Russen verteidigten ihr Land mit großer Entschlossenheit und ohne Rücksicht auf eigene Opfer. Heinz und seine Kameraden wurden in ihren Stellungen immer wieder mit Granaten und Bomben eingedeckt.
In vielen seiner Schreiben kam zum Ausdruck, dass er die Heimat, sein gewohntes Umfeld und vor allem die Eltern sehr vermisste. Über jedes Schreiben, das ihn erreichte und jedes Päckchen freute er sich riesig. Voller Sehnsucht und Ungeduld erwartete er das nächste Schreiben. Den Satz „Nun werde ich sicher auch bald Post erhalten“, konnte ich immer wieder auf seinen Karten und in seinen Briefen lesen.
Zugelassen als Sendung an die Front waren Postkarten und Briefsendungen bis 250g, Päckchen bis 1kg. Die Versorgung der Soldaten war häufig schlecht und Hunger war schon im August 1942 ein ständiger Begleiter. Heinz bat seine Eltern mehrfach um Puddingpulver, das er sich wie seine Kameraden mit Wasser und Zucker kochen wollte, um den knurrenden Magen zu füllen.
Ab und zu wurden aber auch Zigarren, Zigaretten, Alkohol, Schokolade und Bonbons von der Einheit an die Soldaten so reichlich ausgeteilt, dass sie davon noch abgeben und einiges in die Heimat schicken konnten.
Im August musste Heinz, wie andere junge Soldaten auch, eine offizielle schriftliche Erklärung auf einem offiziellen Formblatt abgeben. „Nach sorgfältiger Prüfung der mir zur Verfügung stehenden Unterlagen, erkläre ich pflichtgemäß, daß ich – meine Ehefrau – kein jüdischer Mischling bin“, stand in dem amtlichen Formular zu lesen.
Noch im 1. Weltkrieg hatten fast 100.000 jüdische Soldaten für Deutschland gekämpft, Zehntausende fielen oder wurden schwer verwundet. Im sogenannten Dritten Reich wurden viele der Juden, die diesen Horror überlebt hatten, im Holocaust ermordet. Der Antisemitismus war Staatsdoktrin geworden.
Inzwischen ging der Krieg an allen Fronten erbittert weiter. Heinz konnte in seinem Frontabschnitt deutlich den Gesang der russischen Gegner und das Klappern ihrer Kochgeschirre hören, so nahe waren sich die feindlichen Verbände gekommen.
Anfang Oktober waren die Nächte schon sehr kalt. Heinz schrieb an seine Eltern: „…die Russen versuchen jetzt, ….. uns in Nahkämpfe zu verwickeln. So stehen wir jetzt immer mit einem kurzen Spaten und Handgranaten bewaffnet Wache. Man muss gewaltig aufpassen. Augenblicklich sind die Nächte mächtig dunkel, da der Himmel bewölkt ist und es regnet dauernd“.
Im September fragte Heinz aus dem fernen Russland wieder um Puddingpulver an. „Kann man bei euch noch Puddingpulver kaufen? Wenn Ihr keinen Zucker habt, so schickt es mir ohne“. Er wusste, dass die Versorgungssituation in der Heimat auch bereits sehr angespannt war. Eine andere Bitte betraf eine Mundharmonika. Das kleine Instrument sollte ihm an der Front ein musikalischer Begleiter für stille Stunden sein. In weiteren Schreiben äußerte er die Bitte nach Kleinigkeiten, die ihm das Leben erträglicher machen konnten, wie ein Taschenmesser, einen Bleistift, ein Radiergummi und einen Kohlestift für seine Zeichnungen. Heinz war ein begabter Zeichner, wie aus den von seinem Vater verwahrten Bildern hervorgeht. Einige neue Zeichnungen schickte er von der Front.
Zeichnung seiner Mutter, die Heinz Blanke angefertigt hat.
Im Oktober schrieb Heinz, dass zeitig gefallener Schnee bald wieder aufgetaut war und den Boden in Schlamm verwandelt hatte. Das Leben in den Unterständen und Gräben, in Dreck und Kälte wurde immer schwieriger, und so wanderten die Gedanken des jungen Soldaten noch häufiger zur Heimat und zu den Eltern. Deren Briefe wurden nicht nur gelesen, „… sondern fast auswendig gelernt“.
„…freue ich mich über eure Post. Es ist doch immer etwas Heimat, was man dort gebracht bekommt. …Jeder schwärmt von zu Hause und schmiedet Pläne, was er alles nach dem Kriege machen will. So kommt es jedem noch einmal zu Bewußtsein, wie gut er es doch zu Hause bei Muttern gehabt hat.“
Die Soldaten durften selbstverständlich nicht mitteilen, wo an der Front sie sich gerade aufhielten. Um trotzdem einen Kontakt zu ermöglichen, gab es Feldpostnummern, eine Art Postleitzahl.
Heinz wurde ebenso wie seine Kameraden auch an andere Frontabschnitte versetzt. Danach berichtet er u.a.: „Seit 4 Tagen habe ich nicht geschlafen. Nachts stehen wir 14 Stunden Wache……. Die letzten Tage verbrachten wir nur im Graben oder im Unterstand. Dabei mußten wir aufpassen, daß wir den Kopf nicht zu weit über den Grabenrand steckten. Das Essen holten wir in Kanistern. Es mußte dann jedesmal aufgetaut werden. Brot und Aufstrich, alles ist hart…“
Und „Viele, die mit mir in Salzwedel waren, sind schon nicht mehr.“
Am 12. Dezember wurde Heinz 19 Jahre alt, rechtzeitig zu diesem Tag kam ein Geburtstagspäckchen von zu Hause bei ihm an. Die Weihnachtstage musste er auf Posten zubringen, und dort dachte er wehmütig und voller Heimweh an das Weihnachtsfest im elterlichen Haus. „Wir hatten schon vor einigen Tagen eine Weihnachtsfeier, da wir an den Festtagen wohl nicht dazu kommen.“ schrieb er den Eltern. In seiner Einheit wurden in diesen Tagen reichlich Leckereien wie Schokolade, Drops, Semmel, Kekse und Zigaretten ausgegeben.
Auch am Silvesterabend stand Heinz auf Wache und stellte sich die bange Frage, was das neue Jahr ihm wohl bringen würde. Sicher wohl die Geburt eines Geschwisterchens. Das wusste er, und darauf freute er sich sehr. Eigentlich hätte er wohl gerne eine Schwester gehabt, war dann aber auch froh über den kleinen Bruder, von dessen Geburt Anfang Januar er kurze Zeit später erfuhr.
Der Krieg ging unterdessen mit großer Härte weiter. „4 feindliche Angriffe haben wir abgewehrt, davon 2 Panzerangriffe. Im Wehrmachtsbericht wird es wieder heißen, daß im mittleren Frontabschnitt einige Panzer abgeschossen sind. Aber was das heißt, wird man sich in der Heimat kaum vorstellen können. Es ist auch nur gut so.“
In einem weiteren Brief schilderte Heinz eine erfolgreiche Kampfhandlung und beschrieb seinen persönlichen Zustand so: „Mir geht es verhältnismäßig gut. Ich hatte mir die Füße etwas erfroren und die Hand verbrannt. Beides ist aber schon wieder so ziemlich geheilt.“ Gleichzeitig bereitete er seine Eltern darauf vor, dass er in der nächsten Zeit in Marsch gesetzt würde und wohl kaum Zeit zum Schreiben hätte. Post von ihm kam jetzt nur noch sporadisch, denn „augenblicklich heißt es marschieren und nochmals marschieren und nebenbei noch kämpfen…. Macht euch keine Sorgen.“
Das letzte Schreiben von Heinz datiert vom 24.03.1943. Wenige Tage später, am 03. April erhielt sein Vater die Nachricht:
„Am 28.3.1943 bei den Kämpfen ostwärts Karnowka ist Ihr Sohn Grenadier Heinz Blanke, getreu seinem Fahneneid, auf dem Felde der Ehre für Großdeutschland gefallen.
Die Kompanie wird Ihrem Sohn, der ein vorbildlicher Soldat und allseits beliebter Kamerad war, stets ein ehrenvolles Andenken bewahren.“ Dann folgte der Hinweis auf die letzte Ruhestätte und danach endete das Schreiben mit dem Satz: „Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Sohn sein Leben für den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, ein Trost in dem schweren Leid sein, das Sie getroffen hat.“
Mit diesem schwülstigen, verlogenen Text war von Seiten des Staates der Schlussstrich unter das Leben eines jungen Mannes gezogen, der wie viele andere in diesem schrecklichen, von Deutschland ausgehenden Krieg gestorben war, bevor er richtig gelebt hatte. Er hatte nicht nur seinen kleinen Bruder nicht mehr kennenlernen können, sein Leben war schon zu Ende, bevor er einen Beruf erlernen, eine Partnerschaft eingehen und eine Familie gründen konnte. Mich erfüllt Trauer, wenn ich an die vielen jungen, hoffnungsvollen Menschen denke, die in diesem Krieg für eine unwürdige Sache gekämpft und ihr Leben verloren haben. Der Nationalsozialismus hat nicht nur sie auf dem Gewissen, sondern Millionen von Menschen, die Opfer dieses Weltkrieges und von rassistischer Verfolgung wurden. Ich habe die große Hoffnung, dass unsere Demokratie, die uns bisher so viele Friedensjahre beschert hat, stabil bleibt und das Leben meiner Enkel in friedlicheren Verhältnissen verlaufen kann, als das ihres so jung im 2. Weltkrieg gefallenen Verwandten.
Anmerkung:
Beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sind einige Informationen über Heinz Blanke zu finden.
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